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Predictive Analytics und Industrie 4.0

Publiziert: Aktualisiert 25. März 2016Autor: Oliver Staubli, CEO & Data ScientistTags: HandelszeitungArtikelPredictive AnalyticsIndustrie 4.0Predictive MaintenancePresse

Ich durfte einen weiteren Artikel für die Handelszeitung schreiben. Diesmal im Special Industrie 2025 zum Thema Predictive Analytics im Umfeld von Industrie 4.0. Ich habe versucht das Thema Predictive Maintenance mit einem einfachen Kaffeemaschinen-Beispiel zu veranschaulichen und auf das enorme Potenzial von Predictive Analytics für den Schweizer Markt hinzuweisen. Ich bin wie immer gespannt auf die Reaktionen.

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Artikel-Text:

Datenanalyse ersetzt Kristallkugel

Predictive Analytics Das vorausschauende Verfahren gilt als eine der wichtigsten Technologien für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit. Ihr Einsatz ist sehr vielfältig.

Auf dem Touchscreen meiner Kaffeemaschine erscheint eine Meldung: «Guten Morgen, Oliver. Ich habe festgestellt, dass meine Wasserpumpe mit einer Wahrscheinlichkeit von 92 Prozent in drei Wochen nicht mehr funktionieren wird. Keine Sorge, bis dahin bereite ich weiterhin zuverlässig Kaffee zu. Klicke einfach auf ‹Ersatzteil bestellen›, damit ich die Wasserpumpe sofort bestellen kann. Mit der Option ‹Techniker koordinieren› vereinbare ich den Termin mit dem Servicetechniker bis in gut zwei Wochen. Dein Latte macchiato ist nun bereit. » Puh! Nicht auszudenken, wenn ich den heutigen Tag ohne Kaffee starten müsste ...

Das Beispiel zeigt den Vorteil von Predictive Maintenance, das heisst der vorausschauenden Wartung, für den Endkunden auf. Der Nutzen wird noch deutlicher, wenn man in diesem Szenario die Kaffeemaschine mit einer Windkraftanlage und die in Kürze ausfallende Wasserpumpe mit einem Rotorblatt ersetzt. Ein ungeplanter Stillstand eines Windrades würde schnell zu massiven Ausfallkosten führen. Gleiches gilt aber auch für die regelmässigen und oft unnötigen Inspektionen: Wenn der Ausfall des Windrades zuverlässig vorausgesagt werden kann, ist auch der optimale Wartungszeitpunkt bekannt und die Servicekosten reduzieren sich stark.

Aber auch für den Hersteller der Rotorblätter ergeben sich Vorteile: Frühzeitige Bestellungen reduzieren seine Lagerkosten und er kann das Ersatzteil im Idealfall sogar erst auf Bestellung produzieren. Predictive Maintenance findet selbstverständlich auch bei Produktionsmaschinen Anwendung, um Produktionsengpässe zu verhindern.

Algorithmen durchsuchen Datenberge

Die Grundlage für Predictive Maintenance bilden Cyber Physical Systems, also die Kombination aus der physischen Maschine und der virtuellen Intelligenz. Am Beispiel der Kaffeemaschine wäre der physische Anteil des Systems die Kaffeemaschine mit ihren Sensoren und ihrer digitalen Vernetzung (Internet of Things, IoT) mit der Zentrale. Der virtuelle Anteil besteht aus der Aggregation der Sensordaten in der Corporate Cloud sowie deren intelligenter Auswertung. Erst dieses Gesamtsystem kann die beschriebenen Mehrwerte für alle Beteiligten generieren. Einen entscheidenden Bestandteil davon bildet dabei Predictive Analytics, die vorausschauende Datenanalyse. Früher war es lediglich möglich, die Zustände einzelner Maschinen via Sensoren in Echtzeit zu überwachen. Heute lassen sich auf Basis der Echtzeitdaten einer ganzen Maschinenflotte und von Predictive Analytics sehr genaue Prognosen generieren. Wichtig dabei ist zu verstehen, dass Predictive Analytics sich grundsätzlich von herkömmlichen, manuellen Analysen unterscheidet. Bei Predictive Analytics suchen Algorithmen selbstständig nach Mustern in den riesigen Datenbergen mit Hunderten von Dimensionen, was mit manuellen Analysen unmöglich wäre.

Predictive Analytics unterscheidet sich elementar von herkömmlichen, manuellen Analysen.

Kann die Kaffeemaschine aus dem Beispiel wirklich in die Zukunft blicken? Nein, sie kann es nicht. Aber die mit der Kaffeemaschine vernetzte Zentrale kann, dank der Rechenleistung und den Daten in der Corporate Cloud, die Ausfallsprognosen für sie berechnen. Und falls eine solche Prognose eine gewisse Wahrscheinlichkeit überschreitet, schickt die Zentrale eine personalisierte Meldung direkt auf das Display der Kaffeemaschine.

Wie berechnet sich nun aber eine solche Ausfallsprognose im Detail? Die Kunst bei Predictive Analytics ist es, auf Basis der historischen Messdaten ein statistisches Modell zu generieren, das für neue Messdaten die wahrscheinlichste Lebensdauer der Maschine angeben kann. Für Predictive Maintenance hat sich das Modell von Self-Organizing Maps als sehr effektiv erwiesen.

Man kann sich ein solches Modell wie eine Bibliothek vorstellen, in der für jede vernetzte Maschine ein Logbuch aufbewahrt wird. Jedes Logbuch enthält wiederum für jeden Messzeitpunkt eine Seite mit den Hunderten von Sensorwerten. Der Trick liegt im Ablagesystem (Self-Organizing) und in der Raumaufteilung (Map) dieser Bibliothek. Jeder der rund 100 Räume steht für einen typischen Zustand der Maschine (neu, alt, defekt usw.) und jedes Logbuch wird jeweils entsprechend dem neusten Eintrag einem der Räume zugeteilt (Clustering). Das Logbuch einer Maschine wandert über deren Lebenszyklus von Raum zu Raum. Beobachtet man über die Zeit pro Raum, welche typischen Pfade (Trajectories) Logbücher zurücklegen, so kann man für einen neuen Logbuch-Eintrag anhand des entsprechenden Raumes ablesen, wie lange es dauert, bis die Maschine einen defekten Zustand erreichen wird und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies passieren wird.

Europa hat noch Aufholpotenzial

Wie wichtig Predictive Analytics von der produzierenden Industrie eingeschätzt wird, zeigt die letztjährige Studie «Advanced Technologies Initiative: Manufacturing & Innovation» von Deloitte: Knapp drei Dutzend technische Leiter (CTO), Risikoverantwortliche (CRO) sowie Geschäftsführer (CEO) aus verschiedensten Industriesektoren, darunter von Firmen wie ABB, Kraft, Ford Motor, Dow Chemical, General Electric, IBM, Lockheed Martin, wurden zu zukunftsweisenden Technologien befragt.

In der Rangliste der wichtigsten zehn Technologien wurde Predictive Analytics von den amerikanischen und chinesischen Firmen als «the most important advanced manufacturing technology», sprich die wichtigste moderne Fertigungstechnik für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit, eingestuft. Bezeichnenderweise rangierte bei europäischen Firmen Predictive Analytics nur auf Platz vier. Priorität hatten für sie die Technologien «Smart Factories (IoT)», «Smart, connected Products (IoT)» und «Digital Design, Simulation, and Integration » – alles Grundlagen für Predictive Analytics. Ein Schelm, wer nun daraus schliesst, dass Europa punkto Predictive Analytics drei Schritte hinter den USA und China herhinkt. Gewiss ist aber, dass Europa punkto Digitalisierung und Vernetzung aufholen muss, um den Anschluss im globalen Wettbewerb nicht zu verpassen.

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Oliver Staubli, Data Scientist und Gründer, Revolytics, Aesch LU.